„Was Selenskyj tut, ist ein Verbrechen“, meint mein Tenniskollege Kurt beim Bier nach dem Match. „Tausende von Frauen und Kindern opfert er der blinden Wut eines Schlächters.“ „Nur“, frage ich, „was ist denn die Alternative? Soll er die Tore für Putins Armee öffnen und zulassen, dass 44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer versklavt werden, vielleicht auf Jahrzehnte hinaus?“

Wer hat recht? Was sagt die Ethik dazu?

Sie ist kein Katechismus, der fertige Lösungen für alle Lebenslagen bereithält. Aber sie hilft zu entscheiden, wo dies schwer fällt. Vor allem da, wo sich nur schlechte Alternativen bieten, also in ethischen Dilemmas. In solchen Situationen schaffen wir zwangsläufig Leid oder Ungerechtigkeit. Was wir auch tun, wir können Unmenschlichkeit nicht verhindern.

Zweifellos befindet sich der ukrainische Präsident in einem Dilemma: Unmenschlich ist es, tausende unschuldiger Menschen dem russischen Bombardement auszusetzen. Zwangsläufig schafft die unermessliches Leid, Verletzte, Tote, die Trauer über den Verlust geliebter Menschen.

Aber genauso unmenschlich ist die Alternative: der eigenen Bevölkerung zuzumuten, was mit der Annexion der Ukraine unweigerlich kommen würde: Rechte aufgehoben, eine Marionettenregierung eingesetzt, demokratische Prozesse blockiert, der Rechtsstaat geknebelt, die Menschen einem autokratischen Regime unterworfen. Verlust von Freiheit, Menschenrechten und Würde für Millionen.

Was tun, wo wir nicht umhin können, mit jeder Entscheidung Unmenschlichkeit zu bewirken? Einen ethischen Standpunkt einzunehmen, bedeutet erstens einzuräumen, dass es extrem schwierig, ja unerträglich ist, hier zu entscheiden. Das heisst, nicht in simple Stammtischurteile zu verfallen, sondern auf Argumente zu setzen und die Gründe sorgfältig abzuwägen. Das ist schon viel.

Zweitens liefert die Ethik auch solche Argumente. Sie hat sie im Verlauf ihrer Geschichte entwickelt. Zum Beispiel die von den Aufklärungsphilosophen erstmals formulierten Menschen- und Bürgerrechte, die Selenskyj mit seinem Widerstand bewahren will. Oder Immanuel Kants Warnung davor, Menschen als blosse Mittel einzusetzen. Denn das tut jeder, der wenige Menschen opfert, um für viele etwas Gutes zu bewirken.

Solche Gründe helfen, die Lage zu analysieren – eine Entscheidung liefern sie allein nicht. Dazu braucht es noch etwas Drittes: Menschen, die sich mit der Situation auseinandersetzen, dabei möglichst viele Aspekte mitberücksichtigen, die Gründe gegeneinander abwägen und schliesslich entscheiden.

Die Ethik, zu der diese drei Elemente gehören, liefert keine einfachen Antworten – schlägt aber einen Weg vor, die richtige zu finden. Ethik meint eine Haltung für die Entscheidungsfindung.

Und wer entscheidet schliesslich im Dilemma? Selenskyj hat es für die Ukraine getan. Zum Glück stecken Sie selber nicht in seinem unerträglichen Dilemma. Ethischen Entscheidungen sind Sie trotzdem ausgesetzt. Etwa der Frage, wie Sie selber mit dem Krieg umgehen – und den Menschen, die vor ihm zu uns geflüchtet sind.