Geht es Ihnen auch so wie mir: Ich bin begierig nach Nachrichten aus dem Krieg, fiebere auf Seiten der Ukrainer mit, freue mich über die Zerstörung der Krim-Brücke und die Eroberung Chersons. Ich empfinde ein Gefühl des Triumphs über die Siege der Ukrainer und die Niederlagen der Russen.

Dabei sterben Menschen: russische Soldaten, aber auch ukrainische und Zivilpersonen, die zufällig ins Kampfgeschehen oder den Bombenhagel der Armeen geraten. Wie kann ich mich da freuen? Mit welchem Recht fühle ich Genugtuung über Kriegshandlungen, denen Menschen zum Opfer fallen?

Natürlich könnte ich eine Rechtfertigung suchen: Meine Sympathie gilt den Guten, also den Ukrainern, die Antipathie den Bösen, also den Russen. Mein Gefühl ist somit moralisch in Ordnung. Und doch bleibt es bedenklich, denn es bejaht Gewalttaten, die mein Urteil eigentlich missbilligen müsste.

Offenbar spielen in solchen Fragen Argumente und Gefühle ineinander, unterstützen sich gegenseitig, können sich aber auch widersprechen. Da ist es nötig, genauer hinzusehen, auf die Gründe genauso wie auf die Emotionen. Ich muss meine eigene Haltung reflektieren.

Wenn ich mich über den militärischen Vormarsch der Ukrainer freue: Wem gilt dieses Gefühl dann genau? Der Tatsache, dass die zu Unrecht Angegriffenen ihr Recht wiederherstellen? Oder der, dass die russischen Soldaten zurückgedrängt, geschlagen – getötet werden? Im ersten Fall scheint mir die Genugtuung angemessen.

Andernfalls aber ist sie deplatziert. Ich vergesse, dass dabei junge Menschen, halbe Kinder noch, verwundet werden oder sterben. Die meisten von ihnen wurden in entlegenen Gegenden Russland rekrutiert, wo ihre ökonomische Situation ihnen wenig Alternativen liess. Einige sind wohl auch gezwungen worden oder wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Bis sie sich an der Kriegsfront wiederfanden. Junge Männer, die Mütter und Väter, Freundinnen und Ehefrauen hinterlassen. Oder die Zivilisten, die unschuldig im Bombenhagel des Kriegs sterben.

Worauf sich mein Gefühl genau bezieht, kann ich nur entscheiden, indem ich es bei mir selber überprüfe. Genauso wie mein verstandesmässiges Urteil, das durch eine solche Reflexion vielleicht differenzierter ausfallen wird. Nicht einfach: Sieg den Ukrainern – Niederlage den Russen.

Vielleicht wird meine Haltung dann lauten: Natürlich nehme ich für die Ukraine Partei, wünsche ich, dass ihre Souveränität wieder vollständig hergestellt wird. Gleichzeitig müssen mein Mitgefühl und meine Sorge allen Menschen gelten, die unter diesem Krieg leiden. Nicht nur das Ziel zählt, die Befreiung, sondern auch der Weg dorthin: Es sollen dabei so wenig Menschen wie möglich leiden, Ukrainerinnen und Russen, Soldaten und Zivilistinnen.

Wie ich in meinem Buch ausführlicher erkläre, umfasst Menschlichkeit beides: Gefühl und Verstand. Und Ethik bedeutet, beides zu reflektieren: die Argumente, die mich zu meinem Urteil führen, aber auch die Gefühle, die dabei mit im Spiel sind.