Was läuft falsch in einem Land, in dem es mehr Waffen gibt als Menschen? In dem jede Woche ein Irrer Amok läuft und unschuldige Opfer erschiesst? In dem jährlich über 20‘000 Menschen durch Schusswaffen umkommen?
Schnell sagt man, die laschen Waffengesetze seien schuld. Doch die Antwort greift zu kurz. Tatsächlich gibt es einen viel tiefer liegenden Grund. Er erklärt nicht nur die Gewaltexzesse, sondern auch die Waffengesetze selber. Es geht um eine Haltung, eine Mentalität, die tief in der US-amerikanischen Bevölkerung verwurzelt ist. Eine vollkommen falsche Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft die Gewalt kontrollieren und minimieren muss.
Um diese Haltung zu rechtfertigen, berufen sich viele Amerikaner auf den sogenannten zweiten Verfassungszusatz. Er sichert „dem Volk“ das Recht zu, Waffen zu tragen. Allerdings widerspricht dies strikt einem Grundsatz, den Europa seit dem 17. Jahrhundert kennt. Wir verdanken ihn dem Philosophen Thomas Hobbes, der ihn 1651 in seinem „Leviathan“ entwickelt hat:
Der Mensch neigt dazu, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Schränkt man diese nicht ein, führt das zum Recht des Stärkeren, zum Kampf aller gegen alle, zur Barbarei. Dem kann nur eine Übereinkunft abhelfen, ein Vertrag, in dem jeder Bürger auf sein Recht verzichtet, Gewalt auszuüben, sofern die andern ebenfalls darauf verzichten und es gemeinsam einer einzigen Instanz übertragen, die ihre Macht zum Wohl aller einsetzt. Dieser Vertrag begründet den Staat, der damit über das Gewaltmonopol verfügt. Eine gewählte Regierung, der bewaffnete Kräfte wie Polizei oder Armee unterstellt sind.
In den letzten drei Jahrhunderten haben sich nach und nach solche Staaten entwickelt und die Willkür des Mittelalters beseitigt. Seither, das lässt sich nachweisen, ist in diesen Gemeinschaften die Wahrscheinlichkeit, gewaltsam zu sterben, um das 10- bis 20-fache zurückgegangen. In den USA liegt sie nach wie vor 7 bis 8 Mal höher als in den europäischen Staaten.
Diesem Konzept – das Gewaltmonopol liegt beim Staat – widerspricht die antiquierte Wildwest-Vorstellung, ein Mann müsse sich selber verteidigen, wenn nötig mit Waffengewalt. Die überholte Cowboy-Mentalität steckt hinter all dem, was wir in Europa mit Befremden beobachten: der mythische Nimbus von Feuerwaffen in den USA, ihre immense Zahl, das lockere Verhältnis zum offenen Tragen der Colts, die Glorifizierung des Schiessens als Zeichen der Männlichkeit, die Macht der Waffenproduzenten, die liberalen Waffengesetze – und die Tausenden von unschuldigen Toten, oft Kinder und Jugendliche. Ohne dass diese Mentalität aus den Köpfen verschwindet, wird das Töten weitergehen.
Natürlich bedeutet der Hobbessche Gesellschaftsvertrag keinen Freipass für Polizeigewalt. Diese gibt es in den USA leider ebenso. Es steht zu vermuten, dass auch sie mit jenem Western-Mythos zu tun hat.