Als Chefin müssen Sie alle Ihre Mitarbeitenden gleich behandeln. – Tatsächlich? Glauben Sie das wirklich? Viele tun’s und geraten dadurch in Schwierigkeiten.
Zum Beispiel die Teamleiterin mit dem schwierigen Mitarbeiter, der seine Leistung nicht bringt, gegenüber seinen Kollegen deutlich abfällt – und doch darauf beharrt, gleich behandelt zu werden wie sie: beim Ferienplan, bei der Zuteilung der Aufgaben oder beim Bonus. Die Chefin hält sich ans Gleichheitsprinzip und versucht, ihn auf keinen Fall zu benachteiligen. Aber die Kollegen murren und finden das ungerecht. Der Mitarbeiter, der die ruhige Kugel schiebt, gewinnt Aufwind, die Stimmung im Team sinkt – und die Leiterin schläft schlecht.
Heisst Gerechtigkeit tatsächlich Gleichheit? Schafft diese nicht gerade neues Unrecht? Gewiss, meint Aristoteles (384-322 v.Chr.), das ist die Grundbedeutung von Gerechtigkeit: die Menschen gleich behandeln. Daran richten sich Gesetze und Rechtsprechung aus. Aber verdienen ungleiche Leistungen den gleichen Lohn? Behandeln Sie jeden Kotzbrocken mit derselben Höflichkeit? Stellt ein Fussballtrainer den mittelprächtigen Stürmer ebenso häufig in die Startformation wie Ronaldo?
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Verhältnismässigkeit, die
allen gerecht wird.
Wo es um die Verteilung von Gütern geht, definiert Aristoteles Gerechtigkeit als Verhältnismässigkeit. „Das Recht ist demnach etwas Proportionales.“ meint er und erläutert dies mathematisch: „Es verhalte sich also wie Glied a zu b, so Glied c zu d“ – a/b = c/d. Der Lohn muss der Leistung entsprechen, der Preis der Qualität, die Altersrente dem angesparten Kapital, die Lorbeeren dem Verdienst. Der Quotient muss denselben Wert ergeben, also doch wieder Gleichheit, eine „Gleichheit der Verhältnisse“.
Freilich gibt es auch Sphären, wo nicht die Leistung zählt, sondern das Bedürfnis, wie zum Beispiel in der Medizin. Nicht jede Patientin braucht die gleiche Behandlung. Hier muss sich die Proportionalität nach der Bedürftigkeit richten. Der Gedanke aber bleibt: gerecht heisst proportional. Gerechtigkeit umfasst also beides, die Gleichheit und die Ungleichheit bzw. Proportionalität. Es fragt sich nur, wo welche den Ausschlag geben soll. Als Faustregel gilt: Wo es um Rechte oder grundlegende Lebensbedürfnisse geht, die wir allen zubilligen, muss Gleichheit herrschen. In den meisten andern Fällen aber ist Proportionalität fairer als Gleichheit. Also da, wo nicht-lebensnotwendige Güter, von Menschen geschaffen, verteilt werden müssen.
Warum tut es not, an die Gerechtigkeitsdefinition des antiken Philosophen zu erinnern? Viele Leader, vor allem solche mit einem stark ausgebildeten Gewissen, hängen immer noch der Gleichheitsillusion an. Sie bemühen sich, alle gleich zu behandeln – und neigen so dazu, Ungerechtigkeit zu schaffen. Denn für die Fleissigen ist die Gleichbehandlung der Faulen ungerecht. Statt „Jedem das Gleiche“ sollte die Formel gelten: „Jedem das Seine“. Neigen auch Sie dazu, Fairness und Gleichheit gleichzusetzen? Oder suchen Sie nach einer Verhältnismässigkeit, die allen gerecht wird, auch denen, die Überdurchschnittliches leisten oder spezieller Unterstützung bedürfen? In diesem Fall leisten Sie einen Beitrag zu mehr Fairness in der Welt.