Der Tempel von Delphi war Apollon geweiht, dem Gott des Lichts, der Klarheit und der Künste. Hier weissagte das Orakel den Menschen ihre Zukunft in rätselhaften Sprüchen, die sie selber deuten mussten. Am Eingang forderte der Satz den Besucher auf: Gnóthi seautón, erkenne dich selbst!

Den Satz hat angeblich Chilon von Sparta (6. Jh. v. Chr.) geprägt, einer der sieben Weisen. Der Sinn war klar: Bevor du verstehen kannst, was dir blüht, muss du einsehen, wer du überhaupt bist. Und das heisst bei den Griechen: ein Mensch, kein Gott. Also beschränkt, gefährdet, dem Belieben der Götter ausgeliefert. Masse dir nicht an, ihnen auf Augenhöhe begegnen zu wollen! Ihr Ratschluss bestimmt dein Schicksal.

Diese Version der Selbsterkenntnis ist uns fremd, nicht aber die Aufforderung an sich. Antike Selbsterkenntnis meinte den Menschen als Gattungswesen, in der Neuzeit sehen wir ihn als Individuum. Was die Griechen religiös interpretierten, verstehen wir Heutigen psychologisch-philosophisch. Und nicht nur unsere Grenzen wollen wir kennen, sondern ebenso unser Potenzial.

Was bedeutet die Aufforderung, sich selbst zu erkennen, für Sie konkret? Ich schlage Ihnen fünf Fragen vor. Fünf Bereiche, in denen Sie Klarheit über sich gewinnen sollten.

Erstens Ihre Werte: Wofür leben Sie eigentlich? Was ist ihnen so wichtig, dass Sie darauf nicht verzichten könnten? Ohne das möchten Sie nicht leben. Dafür würden Sie vielleicht sogar sterben. Zweitens Ihre Stärken: Wo sind Sie richtig gut? Das können Sie besser als die Menschen links und rechts von Ihnen. Darauf sind Sie stolz. Drittens Ihre Schwächen: Wo sind Sie anfällig? Empfindlichkeiten, Verletzbarkeiten, unangebrachte Verhaltensweisen, mit denen Sie anecken, die ihnen vorgeworfen werden – nicht immer, aber immer wieder.

Viertens: Wen oder was lieben Sie? Daran hängt Ihr Herz, da blühen Sie auf, das verleiht Ihnen Flügel, da spüren Sie Leidenschaft. Das können durchaus Dinge sein oder Tätigkeiten – hoffentlich aber vor allem Menschen. Fünftens: Woran glauben Sie? Nicht religiös verstanden, sind das all die Überzeugungen, die Sie vielleicht nicht beweisen können, von denen Sie sich aber schwer vorstellen können, dass sie umgestossen werden.

Wer sich kennt, kann seinem Leben eine Gestalt geben.

Diese Elemente – nicht der Ferrari in der Garage oder die Hierarchiestufe im Job – machen Ihre Identität aus. Und selbstredend sind sie Ihnen nicht von den Göttern verliehen worden, sondern gründen in Ihrer Biografie. Sie sind, was Sie sind, weil Sie so geworden sind. Und darum können Ihre Antworten sich auch ändern: Sie können sich weiterentwickeln, entfalten, wachsen.

Warum aber sollen Sie das „erkennen“? Ganz einfach: Weil sich auf diesen Spielfeldern Ihr Leben entscheidet. Wer sich über diese Fragen keine Klarheit erworben hat, der droht sich zu verlieren in Oberflächlichem, falsche Entscheidungen zu treffen, das Wichtige zu verpassen, am eigenen und eigentlichen Leben vorbeizuleben.

Wer sich hingegen genau kennt, der weiss, wer er ist, was er kann und was nicht, was er liebt und glaubt, der kann seinem Leben eine Linie geben, eine Form, eine Gestalt, eine Kohärenz. Dass dies speziell für Leader gilt, ist klar: Wie soll einer andere Menschen führen, wenn er selber den Weg nicht kennt?

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