Im späten 19. Jahrhundert geistert ein schräger Philosoph durch die intellektuelle Landschaft Europas und verkündet eine provokative Botschaft: Gott ist tot! Nietzsche ist der radikalste Kritiker von Kultur, Religion und Moral seiner Zeit. Der konsequente Atheist attackiert das geistige Fundament und zertrümmert die Gewissheiten seiner Zeitgenossen, redet von der „Umwertung aller Werte“. Er läuft Sturm gegen die Verlogenheiten einer Epoche und spielt ihr Enfant terrible. Er provoziert die religiösen und geistigen Autoritäten und begeistert die jungen Intellektuellen.

Was die Metapher „Gott ist tot“ bedeutet, ist offenkundig: Der Glaube an einen christlichen Gott ist obsolet geworden. Die Geschichten, die uns Bibel und Pfarrer verkaufen wollen, lullen vielleicht noch ein kindliches Gemüt ein. Wer selbständig denken kann, hat den lieben Gott längst verabschiedet. Aufklärung und Wissenschaft – Feuerbach, Marx, Darwin – verweisen die christliche Heilslehre ins Reich der Ammenmärchen. Souveräne Denker haben sich davon befreit.

Allerdings ist die Sache damit nicht gegessen. Die Lücke, die Gott hinterlässt, gähnt schmerzlich, verunsichernd, verstörend. Können wir ohne einen Gott leben? Ohne an etwas zu glauben? Mit „glauben“ bezeichnen wir ein subjektives Für-wahr-Halten. Ich glaube an etwas, wenn ich von seiner Existenz überzeugt bin, ohne dies andern beweisen zu können. Andernfalls müsste ich es nicht bloss glauben, sondern wüsste es.

Darum betrifft der Glaube immer Überzeugungen, die über die nackten Fakten hinausgehen. Er kann sich allein auf subjektive, persönliche Erfahrung berufen. Diese hat auch stets etwas Religiöses, und zwar im Wortsinn: religio heisst Verbindung. Das, woran ich glaube, verbindet mich mit andern Seinssphären, anderen Wesen, der Welt. Religion erlöst mich aus der Einsamkeit des Ichs und verbindet mich mit irgend etwas ausserhalb meiner selbst. Glauben heisst davon überzeugt sein, dass ich nicht nur für einen einsamen Augenblick in diese Welt geworfen worden bin, um gleich wieder zu verlöschen, sondern in Verbindung zu stehen mit etwas Grösserem, über Zeit und Raum hinweg. Und diese Verbindung verleiht meinem Dasein Orientierung und Halt, einen Wert und einen Sinn.

Sie müssen sich die Frage dennoch
stellen: Woran glauben Sie eigentlich?

Auch wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nicht zu jener Minderheit gehören, die standhaft am Glauben an einen personalen Gott festhält: Sie müssen sich die Frage dennoch stellen. Woran glauben Sie eigentlich? Auf welche Erfahrungen und welche Einsichten stützt sich Ihr Glaube? Welche Werte sind mit ihm verbunden? Und welchen Sinn verleiht er Ihrem Leben?

Wer Menschen führt, kommt um eine Antwort nicht herum. Er ist sie nicht nur sich selber schuldig, sondern auch jenen, die er führt und die sich an ihm orientieren. Dabei muss er auch Stellung beziehen zu den gängigen zeitgenössischen Antworten: Geld, beruflicher Erfolg und Macht – oder Wohlbefinden, zwischenmenschliche Beziehungen und Humanität. Es geht freilich nicht darum, sich auf dem Supermarkt der Sinn-Angebote ein pfannenfertiges Produkt zu erstehen. Es geht vielmehr darum, die Antwort zu finden, die für Sie gilt, weil sie auf Ihrer Erfahrung beruht und Sie überzeugt. Sie allein. Das ist die Basis für Ihr Leben – und dafür, wie Sie andere führen.

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