Was nun? Versteht er sie oder versteht er sie nicht? Beides natürlich: Er versteht von ihr vielleicht das, was man auswendig lernen kann in Schule und Universität. Was er durch tausendfache Wiederholung im Beruf automatisiert hat. Aber das Entscheidende an ihr verpasst er. Es würde ihm erst dämmern, wenn er sie in Verbindung brächte mit allem, was es sonst noch gibt im Universum des Wissens: mit Physik, der Kunst des Seifensiedens oder den physiologischen Vorgängen in lebenden Zellen.

Lichtenberg, studierter Physiker und Schriftsteller, hat sich mit allem möglichen befasst, von Architektur über Geschichte bis zur Philosophie. In seinen „Sudelbüchern“ konfrontiert er uns immer wieder mit Paradoxa, die uns nötigen, unsere Denkklischees zu hinterfragen. Dann blitzen Einsichten auf wie die, dass wir nur wirklich verstehen, wenn wir unser Wissen vernetzen. Erst wenn wir begreifen, wie ein Wissensfeld mit all den andern zusammenhängt, offenbart sich sein Kern, sein Sinn. Und selbstredend nimmt der Aufklärer nicht die Chemiker aufs Korn, sondern die Fachidioten, ganz gleich welcher Provenienz.

Ein anderer Physiker und Schriftsteller, Robert A. Heinlein, überträgt Lichtenbergs Satz ins 20. Jahrhundert: „Das sollte ein Mensch können: eine Windel wechseln, eine Invasion vorbereiten, ein Schwein schlachten, ein Schiff steuern, ein Haus entwerfen, ein Sonett dichten, die Buchführung machen, eine Mauer aufrichten, einen Bruch schienen, Sterbende trösten, Befehle entgegennehmen, Befehle erteilen, mit anderen zusammenarbeiten, allein handeln, Gleichungen lösen, ein neues Problem analysieren, Dung ausfahren, einen Computer programmieren, ein vernünftiges Essen kochen, tüchtig kämpfen, tapfer sterben. Spezialisierung – das ist etwas für Insekten.“

Menschsein heisst das ganze Leben leben, alle Möglichkeiten ausloten und miteinander verbinden. Nach Heinlein gehört zur Theorie die Praxis, zum Wissen das Können, zum Denken das Fühlen, zum Reden das Handeln, zur einsamen Reflexion die Beziehung zu andern.

Was hat das mit Führen zu tun? – Es ist der Kern von Leadership, der Unterschied zwischen der Führungskraft und der Führungspersönlichkeit. Leader sind Menschen, die im Schaufenster stehen. An ihnen orientieren sich andere, aber nicht in erster Linie am Fachspezialisten, sondern am Menschen. Nur wer als ganzer Mensch überzeugt, kann andere wirklich gewinnen. Wer allein sein Spezialgebiet beherrscht oder es an Menschlichkeit fehlen lässt, wird kaum ernst genommen.

Führungspersönlichkeiten sollten einen
weit gespannten Horizont haben.

Und Leader sind Vordenker. Sie sollten mehr sehen als der Durchschnitt, Zusammenhänge begreifen, die eigene Tätigkeit in einen grösseren Rahmen stellen können. Nur das legitimiert, dass sie es sind, die organisieren, anweisen und vorangehen. Kurzum, Führungspersönlichkeiten sollten einen weit gespannten Horizont haben und möglichst viele Facetten des Menschseins kennen. Weihnachten steht vor der Tür: Setzen Sie ein Buchgeschenk auf Ihre Wunschliste, das Ihnen ein neues Wissensfeld eröffnet. Und planen Sie zum Jahreswechsel etwas ganz Neues: Suchen Sie eine Erfahrung, die Sie noch nie im Leben gemacht haben. Auf dass Sie als Persönlichkeit weiter wachsen.

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