Jerusalem 1192, mitten im Dritten Kreuzzug. Für einige Zeit leben Moslems, Juden und Christen in der Stadt verhältnismässig friedlich zusammen, unter dem Regime des toleranten Sultans Saladin. Er hat den reichen Juden Nathan in seinen Palast geladen und begrüsst ihn mit den Worten: „Du nennst dich den weisen Nathan?“ Als der Gast verneint, hakt Saladin nach: „Wohl! Nennst du dich nicht; nennt dich das Volk.“ Worauf Nathan leichthin erwidert: „Kann sein, das Volk“.
Das soll ein Jahrhundertsatz sein? Die wegwerfende Bemerkung einer Figur aus einem Theaterstück Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781)? Im Kontext des Dramas ist das Diktum tatsächlich ein Jahrhundertsatz. Mit ihm demonstriert Nathan eine Haltung, die philosophischer und erstrebenswerter nicht sein könnte. Nicht nur in seinem Jahrhundert, sondern auch in unserem.
Sie bedeutet keineswegs, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, eine Geringschätzung des Volkes. Nathan ist weit davon entfernt, die Menschen zu verachten. Wo er im Stück auftritt, zeigt er seine Verbundenheit mit allen, gleich welchen Glaubens sie sein mögen. Er ist taktvoll, hilfsbereit und grosszügig, er zeigt Menschlichkeit selbst denen gegenüber, die ihm feindlich gesinnt sind.
Aber Nathan kennt auch ihre Schwächen. Viele sind leichtgläubig und wechseln ihre Meinung schnell. Viele lassen sich jetzt von einer Ansicht begeistern – und behaupten schon bald das Gegenteil. Viele huldigen heute einem Führer – und kehren ihm schon morgen den Rücken zu. Ein kluger Mensch macht sich darum unabhängig vom Urteil der Menschen. Und bildet sich sein eigenes.
Vor allem aber – und hier erst scheidet sich die Spreu vom Weizen – lässt er sich nicht zu sehr beeindrucken von ihrem Lob. Ein Urteil abzutun, das uns attackiert, fällt leichter als eines, das uns schmeichelt. Wer ist schon souverän genug, sich nichts darauf einzubilden, dass er bejubelt wird? In dieser Souveränität liegt die Klugheit von Nathan. Seine Weisheit indes, wäre zu ergänzen, besteht darin, diese Klugheit mit Humanität zu verbinden. Die Schwächen der Menschen zu durchschauen, ist nicht schwer. Ihnen trotzdem mit uneingeschränkter Menschlichkeit zu begegnen, schon eher.
Darum trägt Nathan der Weise seinen Titel zu Recht, auch wenn er sich darauf nicht das Mindeste einbildet. Wie quer liegt eine solche Tugend heute! In einer Zeit des Populismus. In einer Welt, in der narzisstische Führer allerorts das genaue Gegenteil leben: Sie sind auf die Zustimmung der Massen erpicht, gieren nach ihrem Lob und richten all ihr Reden und Tun darauf aus, von ihnen bejubelt zu werden. Da täte mehr menschliche Souveränität von Nathans Sorte Not.
Lassen Sie sich nicht einlullen vom Beifall der andern.
Doch was geht das Sie an? Können Sie sich selber ein Stück Nathan’scher Weisheit aneignen? Ich denke schon. Der erste Schritt liegt in der alten aufklärerischen Aufforderung: Denken Sie selber! Schielen Sie nicht auf das Urteil der andern, sondern bilden Sie sich ihr eigenes. Schielen Sie nicht auf den Mainstream. Sodann: Versuchen Sie dabei zu bleiben, auch wenn Ihnen Missbilligung entgegenschlägt. Ertragen Sie auch ein solides Quantum an Widerspruch. Das ist der Preis, den Sie für eigenständiges Denken zahlen. Und schliesslich: Lassen Sie sich nicht einlullen vom Beifall der andern. Freuen Sie sich darüber, gewiss, aber verlassen Sie sich nicht allzu sehr auf seinen Bestand. Bilden Sie sich nicht zu viel darauf ein.
Das lässt sich sicherlich nicht mit einem Fingerschnippen erreichen. Aber trainieren kann man es allemal. Eine Übung darin, sich unabhängiger zu machen davon, was andere über uns denken. Und eine Übung in Mut. Den braucht es nämlich, um zu sagen: „Kann sein, das Volk.“