Anfang 2000 besucht der Journalist Guido Kalberer den Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900-2002), um ihn zu interviewen. Der Text soll am 100. Geburtstag des berühmten Philosophen erscheinen. Der alte Mann verdeutlicht im Gespräch das Hauptmotiv seines Denkens: das Bestreben, „einem andern zuzuhören in der Meinung, er könnte recht haben.“ Am Ende eines langen Lebens blickt ein grosser Mann auf seine Philosophie zurück und fasst sie in einem Jahrhundertsatz zusammen, an der Schwelle des Todes und zugleich eines neuen Jahrtausends.
Gadamer ist der Philosoph des Verstehens, Begründer der philosophischen Hermeneutik. Diese weiss, dass es keine Objektivität gibt, wenn es darum geht, Menschen zu verstehen. Sie stehen immer in einem Bezug zu den Dingen und der Welt, bewerten und beurteilen sie.
Alles, was für den Menschen und sein Leben wichtig ist, können wir nur begreifen, wenn wir diesen Bezug verstehen: Texte, Kunstwerke, Handlungen, sprachliche Äusserungen, kurz: alle Kulturprodukte. Und vor allem den Menschen selber im Gespräch. Hier ist Objektivität gar nicht möglich, ja sie verstellt das Verstehen geradezu.
Das Verstehen im Feld des Menschlichen heisst also, den Horizont des andern einbeziehen. Wer nur seinen eigenen sieht, den des andern nicht, wird immer nur sich selber verstehen, nie aber ihn. Wer redet, ohne sich etwas sagen zu lassen, versteht nichts. Verständigung zwischen Individuen bedeutet Horizontverschmelzung.
Wer nur seinen eigenen Horizont sieht,
den des andern nicht, wird immer nur
sich selber verstehen, nie aber ihn.
Doch wie reden wir miteinander? Hören Sie sich um, an Sitzungen und Gesprächen am Arbeitsplatz. Sehen Sie sich bei sogenannten Diskussionen im Fernsehen um, bei Gesprächsrunden oder bei Sendungen à la „Arena“. Da benutzt man das Gegenüber bloss als Stichwortgeber, fällt sich ins Wort, wird aggressiv. Träte nicht der Moderator als Raubtierbändiger dazwischen, die Teilnehmenden würden bisweilen fast übereinander herfallen. Keiner hört da dem andern wirklich zu, von einem echten Gespräch keine Rede, noch weniger vom Gedanken, der andere könnte recht haben.
In der überwiegenden Zahl unserer Gespräche geht es nicht um Fragen, die sich objektiv entscheiden lassen. Zumeist reden wir über Einschätzungen, Wertungen, Ziele, also über Fragen, bei denen Menschen mit gutem Grund verschiedener Ansicht sein können. Das gilt für politische, gesellschaftliche beruflichen Auseinandersetzungen, wo es kaum je zweifelsfrei eine richtige Lösung gibt. Hier überall hiesse Verstehen, die Gründe des Gegenübers zu erfassen und zu überprüfen, ob sie auch für mich gelten könnten, ob ich ihnen vielleicht zu wenig Beachtung geschenkt habe.
Gadamers Empfehlung sollten sich Menschen, die andere führen, hinter die Ohren schreiben. Ihr Kerngeschäft heisst Kommunikation. Sie leben die Kultur des Gesprächs vor, in Unternehmen, politischen Parteien, Vereinen und Familien. Der Philosoph rät ihnen: Prüfen Sie sich. Wollen Sie wirklich wissen, was der andere meint, oder nur recht haben?