Zugegeben, etwas lang ist er schon, dieser Jahrhundertsatz. Dafür steckt auch einiges drin.  Sehen wir genauer hin, am besten an einem Beispiel.

Vielleicht ärgern Sie sich gelegentlich über einen Mitarbeiter, der mit seinen Gesprächspartnern schroff umgeht. Er raunzt sie an und gibt mürrische Antworten. Dabei haben Sie ihm dies schon mehrfach signalisiert, ja seine Schwäche sogar direkt ausgesprochen: „Sei nicht so barsch, sondern etwas liebenswürdiger.“ Aber er versteht es einfach nicht, ist nicht bereit, seine Haltung zu hinterfragen.

Goethe empfiehlt gerade die umgekehrte Strategie: Reiben Sie ihm seine Schwäche nicht unter die Nase, sondern ignorieren Sie sie. Tun Sie so, als verhalte er sich tadellos. In unserem Beispiel: Behandeln Sie den Mitarbeiter betont freundlich, statt sich von seinem Ton anstecken zu lassen. Danken Sie ihm für das gute Gespräch, das Sie gerade mit ihm führen durften, besonders da, wo er ausnahmsweise eine Spur von Freundlichkeit aufblitzen liess. Dies alles freilich ohne Ironie und Verstellung – nur soweit, dass es für Sie noch stimmt.

Wer Wertschätzung erlebt,
will diesem Urteil gerecht werden.

Warum soll das weiterhelfen? Ganz einfach: Er wird den Respekt empfinden, den Sie ihm entgegenbringen. Andere nämlich, von ihm angesteckt,  behandeln ihn ebenso schroff wie er sie. Er wird stutzen darüber, dass Sie den Umgang mit ihm schätzen: „Sieh an, meine Chefin findet es angenehm, sich mit mir zu unterhalten!“

So wird er sich automatisch genauer beobachten. Vielleicht wird ihm die Diskrepanz zwischen Ihrer Einschätzung und seinem Verhalten sogar bewusst. Auf jeden Fall wird er Ihrem Urteil gerecht werden wollen. „Wenn sie das Gespräch mit mir schon schätzt, will ich mich nicht lumpen lassen.“ Dabei wird er sich an Ihrem Stil orientieren. Und schon haben Sie ihn gewonnen.

Allerdings sagt Goethe nicht, der Mensch werde dann, „was er sein sollte“, sondern „was er sein kann“. In den Verben liegt ein doppelter Unterschied. Der Konjunktiv signalisiert nur eine Möglichkeit, einen frommen Wunsch, der Indikativ ein Faktum: Jetzt zeigt der Mensch tatsächlich ein neues Verhalten. Und was er kann, ist vielleicht nicht, was er – in Ihren Augen – soll. Er realisiert seine Möglichkeiten, nicht Ihre Ansprüche. „Was er kann“ ist meistens mehr wert als „was er sollte“.

Können Sie den Leuten so wirklich „helfen“, bessere Menschen zu werden? Zweifel sind berechtigt: Es gibt die Unbelehrbaren, diejenigen, die sich nicht einladen lassen zu mehr Zivilisiertheit. Aber Goethe meint seinen Rat auch nicht als Imperativ, sondern als Grundhaltung. Denn er glaubt daran, dass die Hartherzigen in der Minderheit sind. Und natürlich hat er nicht bloss ruppige Umgangsformen vor Augen, sondern alle menschlichen Schwächen.

Falls Sie dem Gedanken etwas abgewinnen können, sollten Sie fragen, ob Sie mit Ihren Mitmenschen nicht allzu oft die konfrontative Strategie fahren statt der einladenden. Zum Beispiel bei Ihrem „schwierigen“ Mitarbeiter. Oder bei Ihrem Lebenspartner, Ihrer Lebenspartnerin. Versuchen Sie es einmal anders.

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