Vielleicht reisen Astronauten dereinst zu einem fernen Planeten, um ihn zu besiedeln. Das wäre eine zweite Chance für die Menschheit: Sie könnte dort eine bessere Gesellschaft begründen. Einen Staat, der die Ungerechtigkeit beseitigt. Eine Gemeinschaft der Fairness.
Eine Reise dorthin wird Jahre dauern, selbst zum nächsten Exoplaneten, selbst mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit. Zeit genug also für die Weltraumfahrer zu überlegen, auf welchen Grundsätzen sie ihre Kolonie aufbauen wollen.
Schnell werden sie einig: Ohne Gleichberechtigung geht es nicht. Hinter die Einsicht der Aufklärer darf man nicht zurückfallen: Gleiches Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf medizinische Versorgung auf die Freiheit des Glaubens, Gleichheit vor dem Gesetz und so weiter. Das ist nicht strittig.
Allein bald dämmert ihnen: Es gibt keine Gesellschaft von Gleichen. Menschen sind eben nicht gleich. Es gibt Unterschiede bei den Begabungen, den Neigungen, den Bedürfnissen. Nicht alle können und wollen regieren, als Ärztin wirken oder ein Handwerk betreiben. Und mit vielen Funktionen sind zwangsläufig bestimmte Privilegien verbunden. Doch wann sind sie legitim und wann nicht?
Das Erste, das ihnen einfällt: Privilegierte Positionen müssen allen offen stehen. Niemand darf von ihnen ausgeschlossen werden aufgrund seiner Herkunft, seines Geschlechts, seiner Gesinnung oder ähnlicher Kriterien. Doch das reicht nicht. Schliesslich verfallen die Astronautinnen auf eine geniale Idee: Ungleichheiten sind dann legitim, wenn sie allen zum Vorteil gereichen. Und das heisst: Sie müssen gerade denen nützen, die von ihnen nicht bevorteilt werden. In Rawls Formulierung: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen […] den am wenigsten Begünstigten den grösstmöglichen Vorteil bringen.“
Es nützt mir, dass es Richterinnen gibt, die Streitfälle unparteiisch entscheiden, auch wenn ich selber nicht Recht sprechen darf. Ärztinnen sollen einen privilegierten Zugang zu meinem Körper haben; das ist in meinem Interesse, obschon ich kein Arzt bin. Wirtschaftliche Fachleute sollen strategische Entscheide in Unternehmen treffen dürfen, das dient auch mir, der ich kein CEO bin.
Natürlich hat der Philosoph Rawls keine Science Fiction verfasst, sondern eine 700 Seiten dicke „Theorie der Gerechtigkeit“. Ihre Grundgedanken aber finden sich in meiner Story: Die Prinzipien einer gerechten Gesellschaft finden wir, wenn wir von unseren konkreten subjektiven Interessen absehen wie die Astronauten: Sie kennen ja ihre künftige gesellschaftliche Position nicht. Rawls nennt dies den „Schleier der Unwissenheit“. Dann werden wir notgedrungen auf zwei fundamentale Grundsätze stossen: den Grundsatz gleicher Rechte (Rawls‘ „Gleichheitsprinzip“) und den Grundsatz legitimer Ungleichheiten (Rawls‘ „Differenzprinzip“).
Bringt die Ungleichheit den nicht ganz Gleichen einen Vorteil?
Sie denken, das sei selbstverständlich? Dann prüfen Sie doch einmal die Ungleichheiten in unserer Gesellschaft mit dem Rawlsschen Differenzprinzip. CEOs verdienen das 200-Fache eines durchschnittlichen Mitarbeiters – in seinem Interesse? Potente Unternehmen steuern gesellschaftliche Entscheide aufgrund ihrer Marktmacht – im Dienst der Konsumenten? Wenige Prozent der Individuen besitzen die Hälfte des Volksvermögens – zum Besten des Volkes?
Auf dem Prüfstand stehen natürlich nicht nur gesellschaftliche Privilegien. Es gibt welche auch in Ihrem direkten Umfeld: im Unternehmen, in Vereinen und Familien. Bringen diese Ungleichheiten den nicht ganz Gleichen tatsächlich einen Vorteil?