Die Regel, die Jürgen Habermas (*1929) allen sachorientierten Diskussionen vorgibt, leuchtet unmittelbar ein: Natürlich sollen die besseren Argumente sie leiten, nicht Macht oder Eitelkeiten. Selbstverständlich wäre es um die Welt viel besser bestellt, wenn alle sich an diese Devise hielten.

Nur leider tun sie es so selten. Leider ist der Glaube an die Kraft des besseren Arguments naiv. Als ob sich die Dummköpfe dieser Welt eines Besseren belehren liessen, als ob die Mächtigen auf ihre Ansprüche verzichten und die Narzissten sich selber weniger ernst nehmen könnten! Nein, die Menschen streiten, befehlen oder manipulieren allenthalben, in den Unternehmen genauso wie in politischen Debatten.

Und doch verdient Habermas‘ Jahrhundertsatz, dass man ihn unter die Lupe nimmt. Worin besteht jener „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ genau? Sie kennen das gewiss: In voller Überzeugung diskutieren Sie, verteidigen Ihren Standpunkt und entkräften Einwände – und plötzlich bringt Ihr Gegenüber einen Gedanken, auf den Sie gar nicht gekommen wären, der aber so einleuchtend ist, dass Sie ihn gar nicht abweisen können. Ja, tatsächlich, das stimmt – das habe ich nicht bedacht. Ich kann gar nicht anders als zustimmen. Der Zwang liegt im Nicht-anders-Können, die Zwanglosigkeit darin, dass ich es bin, der zustimmt, mein eigenes, souveränes Ich.

Warum findet das so selten statt? Warum erleben wir den Widerspruch weit häufiger als Zustimmung? Warum streiten Menschen andauernd und überall auf der Welt, und immer im Glauben, recht zu haben? Liegt es daran, dass es so schwer ist zu entscheiden, welches Argument das „bessere“ ist? Ich glaube nicht.

Viel häufiger verwehrt eine emotionale Barriere dem besseren Argument den Zutritt: die Angst. Viele Menschen verweigern sich dem Gedanken des Gegenübers, weil sie befürchten, sich mit einem Zugeständnis zu blamieren. Sie blocken Argumente ab, die bedrohen, was ihnen ihr Leben so angenehm macht: Positionen, Bequemlichkeiten, Privilegien. Sie hören zu denken auf, sobald sie riskieren, die Säulen ihrer Weltanschauung hinterfragen zu müssen.

All diese Reflexe der Angst verhindern, dass sich der Raum für das bessere Argument überhaupt erst öffnet: mein Innenraum. Solange nämlich meine Ängste mein Denken bestimmen, hat das tatsächlich bessere Argument des Gegenübers gar keine Chance, von mir als solches wahrgenommen zu werden. Erst wenn ich diese Ängste kenne, wenn ich weiss, welche Befürchtungen meinen Blick trüben, entsteht der Innenraum, in dem sich das Erlebnis des „eigentümlich zwanglosen Zwangs“ einstellen kann.

Die emotionale Barriere Angst verwehrt
dem besseren Argument den Zutritt.

Darum wäre es voreilig, das Prinzip vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments als weltfremde Philosophie abzutun. Sein Wert liegt darin, dass es das Kriterium aufzeigt, an dem wir Diskussionen ausrichten sollten. Was heisst das für Sie? – Nehmen Sie zum Beispiel eine aktuelle Debatte, die schwierige Auseinandersetzung, die Ihnen gerade Kopfzerbrechen bereitet: Gibt es eine Angst, die Ihnen hier den Blick trübt? Ein Interesse, das Sie die Sache einseitig sehen lässt? Eine Eitelkeit, die den Weg zu einem Konsens verhindert?

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