Sie kennen die unerschütterlichen Behauptungen aus dem Mund von Politikerinnen und Wirtschaftsführern. Im Brustton der Überzeugung verkünden sie ihre Wahrheit, als ob der liebe Gott persönlich sie ihnen eingegeben hätte. „Der freie Markt regelt alles“, sagen die einen, andere: „Der Staat muss regulierend eingreifen.“ Die CEO verkündet: „Allein Kosten senken führt das Unternehmen zum Erfolg.“

Wie merken Sie, ob solche Theorien der Wahrheit entsprechen? – Vielleicht verlangen Sie Beweise. Aber dieser Weg führt kaum zum Ziel. Politiker werden genauso Beispiele für ihre Überzeugung finden wie ihre Gegenspieler. Und die CEO für die Richtigkeit ihrer Strategie.

Ein anderes Modell schlägt der österreichisch-britische Philosoph Karl Raimund Popper (1902-94) für die Wissenschaften vor. Diese versuchen ihre Theorien zu beweisen, indem sie aus einer Reihe von Beobachtungen auf allgemeine Sätze schliessen. Wir haben tausende von Schwänen gesichtet, ausnahmslos weiss, und folgern: Alle Schwäne sind weiss – bis ein schwarzer Schwan auf den Plan tritt. Das zeigt: Theorien mögen lange Zeit richtig sein. Aber plötzlich widerlegt sie ein Gegenbeispiel.

Wir können die Wahrheit einer Theorie nie endgültig beweisen.  Darum dreht Popper den Spiess um und fordert, dass Theorien falsifizierbar sein müssen. Man muss sie widerlegen können. Es muss klar sein, welche Fakten uns zwingen, die Theorie zu begraben. Die Schwäne-Theorie ist erledigt, sobald ein einziger schwarzer Schwan auf den Plan tritt. Sie ist falsifizierbar. Bleiben Theorien hingegen so unscharf, so verschwommen, dass sie sich nicht widerlegen lassen, sind sie unbrauchbar, warme Luft oder wie Popper sagt: metaphysisch.

Das heisst nicht, auf Beweise zu verzichten. Plausible und erklärungsstarke Theorien sollen weiterhin gelten. Allerdings nur, solange sie sich bewähren. Sobald aber ein Gegenbeispiel auftritt, sind sie – als allgemeine Theorien – widerlegt. Popper ersetzt also das Prinzip der Wahrheit durch das der Bewährung.

Damit verbindet sich eine Bescheidenheit unserem Wissen gegenüber. Wir müssen seine Vorläufigkeit anerkennen und die Möglichkeit einräumen, dass es sich als falsch herausstellt. Im Grunde ist es nicht viel mehr als der gegenwärtige Stand des Irrtums. Oder wie Popper pointiert formuliert: „Wir wissen nicht, sondern wir raten.“

Was für die Wissenschaft gilt, trifft auf die Theorien des Alltags noch viel mehr zu. Poppers Haltung würde vielen Meinungsmachern wohl anstehen. Statt apodiktische Wahrheiten zu verkünden, würden sie besser von persönlichen Überzeugungen reden, die nicht gefeit sind gegen Irrtum und Korrektur.

Unser Wissen: der gegenwärtige
Stand des Irrtums.

Es wäre freilich ebenso falsch, deswegen alle Theorien für fragwürdig zu erklären. Einige haben sich zweifellos besser bewährt als andere: Die Erde kreist um die Sonne und steht nicht im Zentrum des Universums. Corona ist kein „Grippchen“, wie Bolsonaro meint, sondern eine reale Bedrohung.

Was heisst das für Sie? Mir scheint, dreierlei: Halten Sie sich an die Tatsachen und an das, was die Wissenschaft gegenwärtig als gesichert ansieht. Misstrauen Sie den „objektiven“ Wahrheiten von Meinungsmachern. Und üben Sie selbst sich in intellektueller Bescheidenheit: Lassen Sie zu, dass auch Ihre eigenen festen Überzeugungen eine Korrektur erfahren könnten.

Download als PDF