
„Die Weisheit des Lebens besteht im Ausschalten der unwesentlichen Dinge.“ Zitatensammlungen schreiben die Aussage häufig Lao Tse zu, dem grossen weisen Meister aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert. Der Autor passt ins Konzept: ein bekannter Lehrer aus alten Zeiten, legendenumrankt, aus dem Fernen Osten. Doch in Lao Tses einzigem Werk «Daodejing» – «Vom Sinn und Leben» – findet sich die Aussage nicht. Tatsächlich nämlich stammt sie von einem anderen Chinesen, dem Schriftsteller Lin Yutang (1895–1976).
Ein Satz für die Ewigkeit ist sie trotzdem. Denn wer könnte es bestreiten: Unser Leben ist endlich. Darum kostbar. Vergeude also deine Zeit nicht. Konzentriere dich aufs Wesentliche. Lass die unwichtigen Dinge beiseite. So einleuchtend die Aussage, so banal bleibt sie – solange nicht gesagt wird, was denn nun das Wesentliche ist. Dafür gibt es eine Nagelprobe: wenn der Tod an die Tür klopft.
Die Australierin Bronnie Ware hat viele Jahre lang Sterbende begleitet. Ihr Buch «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» fasst zusammen, was für Menschen, die bald gehen müssen, im Leben zählt. Beziehungsweise gezählt hätte. Denn wenn man in der Stunde der Wahrheit bereut, bestimmte Dinge nicht getan zu haben, müssen es die fürs Leben wesentlichen sein.
Nach Ware wünschen Menschen am Ende des Lebens, sie hätten 1. mutiger ihr eigenes Leben gelebt, anstatt den Erwartungen anderer zu entsprechen, 2. nicht so viel gearbeitet, 3. den Mut gehabt, ihre Gefühle auszudrücken, 4. den Kontakt zu ihren Freunden aufrechterhalten und 5. sich erlaubt, glücklicher zu sein.
Doch predigen Sie solche Weisheiten einmal in einem Management-Seminar – oder am Biertisch! Da heisst es dann: Man kann ja nicht einfach sein eigenes Ding ohne Rücksicht auf andere durchziehen. Soll man denn auf der faulen Haut herumliegen? Zum Leben gehört die Arbeit. Wer posaunt schon seine Gefühle ungefiltert hinaus! Kontakt mit Menschen hat man im Beruf genug. Und wieso soll man sich das Glück erlauben müssen?
Kein Messi der eigenen Lebensführung sein.
All dies ist nicht falsch, aber höchstens die halbe Wahrheit. Denn erstens geht es nicht um «Man», sondern um Sie persönlich. Und zweitens auch nicht um das eine oder andere Extrem. Es geht ums richtige Mass. Ob Sie es gefunden haben, zeigt sich, wenn Sie konkreter fragen. Entlang der Liste von Bronnie Ware:
- Wie häufig passen Sie sich den Erwartungen anderer an, wo Sie eigentlich ihrer persönlichen Überzeugung folgen sollten?
- Entspricht das Leben, das Sie gerade führen, der Work-Life-Balance, die Sie persönlich für richtig halten, nicht Ihr Arbeitgeber oder Ihr Umfeld?
- Wie häufig weichen Sie aus, wo Sie Ihr Gefühl – um Ihrer eigenen Authentizität willen – nicht maskieren sollten?
- Schenken Sie den Menschen, die Ihnen am wichtigsten sind, wirklich genügend Zeit?
- Können Sie die Freude, die sich mit dem Glück einstellt, wirklich zulassen, vor sich und vor anderen?
Wir sollten uns diese Fragen nicht bloss alle paar Jahre einmal stellen, sondern immer wieder. Das könnte uns Yutangs Maxime näherbringen. Und verhindern, dass wir Messis der eigenen Lebensführung werden.
