Was ist nur aus uns geworden? Das fragen viele angesichts der Disruptionen, die sich gegenwärtig auf der Welt ereignen. Der Krieg, Jahrzehnte lang in weiter Ferne, ist zurückgekehrt nach Europa, mit seiner ganzen Brutalität. Autokraten greifen in bisher stabilen Demokratien nach der Macht und gehen gnadenlos gegen alle vor, die nicht spuren. Rechtsstaat und demokratische Verhältnisse könnten bald auch bei uns bedroht sein. Ganz zu schweigen davon, dass wir dabei sind, unseren Planeten nachhaltig zu verwüsten.

Die Welt scheint aus den Fugen geraten. Nicht von sich aus. Nein, wir selber sind die Täter. Auf der Anklagebank sitzt der Mensch. Was muss das für ein Wesen sein, das zu solcher Zerstörung fähig ist? Verständlich, dass für viele eine Idee zerbröckelt, an die sie fraglos geglaubt haben: Fortschritt bringt mehr Sicherheit, Gerechtigkeit und Lebensqualität; die Menschheit entwickelt sich zum Besseren; denn der Mensch ist grundsätzlich gut.

Dieser Glaube an das Gute im Menschen wurzelt in der Renaissance. Keiner hat dieses Menschenbild pointierter ausgedrückt als Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494). Seine „Rede über die Würde des Menschen“ skizziert eine Vision, die nicht nur für seine Epoche richtungweisend ist, sondern für die gesamte Neuzeit.

Gott hat, so erzählt Mirandola, allen Wesen eine natürliche Ausstattung zugeteilt und sie an einen bestimmten Ort gestellt. Sie alle haben ihre ökologische Nische und sind den entsprechenden Naturgesetzen unterworfen. Allein dem Menschen auferlegt der Schöpfer keine feste Bestimmung. „Von keinen Schranken eingeengt, sollst du deine eigene Natur selbst bestimmen nach deinem Willen“. Gott erschafft ihn „weder himmlisch noch irdisch“, lässt ihn frei: „Du kannst nach unten in den Tierwesen entarten; du kannst nach oben, deinem eigenen Willen folgend, im Göttlichen neu erstehen“.

Natürlich spricht Mirandola dem Menschen damit nicht seine biologische Natur ab. Befreit von der Metaphorik und der Sprache ihrer Zeit, lautet die Botschaft vielmehr: Als einziges Wesen der Natur ist der Mensch nicht einfach von der Biologie determiniert. Er kann in ein reflexives Verhältnis zu ihr treten, kann sich gegenüber seinen Trieben, Affekten und Wünschen verhalten. Kurz, er kann entscheiden. Und damit bestimmen, wer er sein will. Darin liegt seine Würde.

Die Menschheit versagt – der Einzelne kann menschlich bleiben.

Man könnte jetzt fragen: Kennen Sie Beispiele für Menschen, die „nach unten … entartet sind“? Und solche, die „im Göttlichen neu erstehen“? Und sicher fallen Ihnen schneller welche aus der ersten Kategorie ein. Aber darum geht es nicht. Worauf es ankommt, ist vielmehr, dass der Mensch zu beidem fähig ist: Er kann sich dem Eigennutz, der Rücksichtslosigkeit, der Grausamkeit verschreiben. Er kann sich aber auch zur Menschlichkeit bekennen – und menschlich handeln.

Und was heisst das in der aktuellen Weltlage? Tatsächlich erweist sich die Menschheit als ganze dieser Tage als jämmerlich egoistisch, rücksichtslos und brutal. Sie ist dabei, kläglich zu versagen. An den einzelnen Menschen können Sie sich gleichwohl halten. Ihm können Sie in Ihrem Alltag stets die Chance zubilligen, „im Göttlichen neu zu erstehen“. – Und Sie selber können, Mirandola folgend, Ihre „eigene Natur selbst bestimmen nach Ihrem Willen“.

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