Ist es für einen Fürsten „besser, geliebt zu werden als gefürchtet, oder umgekehrt“, fragt der Renaissance-Autor in seinem Werk „Il Principe“. Übersetzt ins heutige Umfeld: Sollen Leader auf Sympathie oder die Furcht der Menschen setzen? Die Antwort des Machttheoretikers erstaunt nicht: Da man selten beides zusammen haben kann, verlässt sich ein Führer besser auf die Furcht als auf die Liebe.

Was Machiavelli hingegen wenige Zeilen danach schreibt, ist ein Jahrhundertsatz, allen Vorbehalten gegenüber seinem skrupellosen Machtkalkül zum Trotz: „Das Band der Liebe ist die Dankbarkeit“.

Auf die Frage, warum wir einen Menschen lieben, geben wir üblicherweise ganz andere Antworten: Er ist bewundernswert, tugendhaft, schön, charmant oder erotisch anziehend. Machiavellis Einsicht erfasst dagegen etwas zentral Menschliches: Liebe ist die Reaktion darauf, dass wir dem andern dankbar sind.

Kinder lieben ihre Eltern dafür, dass sie ihnen alles verdanken, das Leben, Geborgenheit und ständigen Rückhalt. Eltern lieben ihre Kinder für die Freude und die Erfüllung, die diese ihnen schenken. Der Liebespartnerin bin ich dankbar, dass sie mir warme Fürsorge gewährt, in der Verliebtheit gar Beglückung und Verzauberung. Dem Freund für die Wertschätzung und wohlwollende Unterstützung. Wenn ein anderer Mensch uns etwas Wertvolles gewährt, drückt sich unsere Dankbarkeit dafür in einem Gefühl aus, das wir Liebe nennen.

Säen ohne Garantie, die
Ernte einfahren zu können

Für unser praktisches Leben heisst das, dass die Liebe sich nicht von selbst einstellt. Sie als Selbstverständlichkeit erwarten oder gar einfordern heisst ihr Gesetz verkennen. Wer geliebt sein will, muss „liebens-wert“ sein, das bedeutet – Machiavelli folgend – dem andern einen Grund zur Dankbarkeit geben. Mein blosses Dasein reicht dazu beileibe nicht immer aus. Wenn ich ernten will, muss ich beim andern zuerst säen: durch Wohlwollen, Unterstützung und Wertschätzung. Nur Kindern und jugendlich Verliebten genügt es, einfach da zu sein, um andere in dankbare Verzückung zu versetzen.

Leadern allerdings – und damit zurück zur Anfangsfrage – verlangt Machiavellis Einsicht etwas ab, was ganz schwer zu leisten ist: den Menschen, denen sie vorangehen, Grund zur Dankbarkeit zu geben. Denn ihre Führungsrolle kollidiert häufig damit: Sie müssen Aufgaben lösen, die häufig im Widerspruch zu den Wünschen der Einzelnen stehen. Sie müssen das Ganze im Auge behalten, nicht partikulare Interessen. Darum müssen Leader notgedrungen auch oft enttäuschen.

Hier ist Machiavelli also beizupflichten: Wenn Sie als Leader auf die Liebe Ihrer Mitarbeitenden setzen, werden Sie Ihre Enttäuschungen erleben, zwangläufig. Die grosse Kunst hingegen besteht darin, diese Liebe zu verdienen, ohne sie tatsächlich zu erhalten: indem Sie das tun, was für die andern richtig und wertvoll ist. Das nämlich gehört zur Aufgabe von Leadern, das Wohlergehen aller im Auge zu behalten, mindestens so weit deren Wünsche gerechtfertigt sind. Für Sie aber bedeutet das: zu säen ohne Garantie, die Ernte einfahren zu können.

Viel verlangt! Trösten mag da vielleicht, dass Sie überall auch Menschen finden werden, die Ihnen für genau diese Selbstlosigkeit dankbar sind.

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