Ist Ihnen schon aufgefallen, wie „kreativ“ Menschen sein können, wenn man sie auf moralische Regeln behaftet. Sie „interpretieren“ die Regel anders, behaupten, hier liege eine Ausnahme vor, oder sie führen eine gegenläufige Regel ins Feld.
Seit jeher hat die Ethik auf Regeln gesetzt: den kategorischen Imperativ, das utilitaristische Prinzip oder auf Gerechtigkeitsgrundsätze. Doch Regeln können versagen. Sie sind interpretationsbedürftig, können einander zuwiderlaufen oder erfassen die komplexe Wirklichkeit nicht angemessen. Darum verleiten sie leicht zur Rabulistik, zur Wortklauberei.
Vor einem halben Jahrhundert haben deshalb einige Ethikerinnen – Elisabeth Anscombe, Philippa Foot, Martha Nussbaum – einen anderen Weg eingeschlagen. Beim Handeln, sagen sie, kommt es weniger auf die Regeln an als auf den Charakter. Gutes Handeln lässt sich kaum an den Normen ablesen, die jemand ins Feld führt, sondern an seiner Gesinnung. Damit wechselt der Fokus: von den Handlungen zum Handelnden selber, zu seinen Tugenden.
Tugend, Charakter – das tönt säuerlich, riecht nach Moralin aus religiösen Flaschen. Darum orientieren sich diese Ethikerinnen am vorchristlichen Philosophen Aristoteles, der die Begriffe ins Zentrum seiner Ethik gestellt hat. Tugenden sind für ihn in der Persönlichkeit verankerte Dispositionen. Feste Haltungen, die den Menschen in unterschiedlichen Situationen stets gleich handeln lassen. Die Grosszügigkeit eines Menschen zum Beispiel zeigt sich nicht darin, dass er anderen gelegentlich etwas gönnt, sondern in allen Lebenslagen. Er ist so, er kann nicht anders. Die Tugenden hat er sich antrainiert, sie formen seine Persönlichkeitsstruktur, seinen Charakter.
Die Tugendethikerin Philippa Foot untersucht die Rolle, die Tugenden in menschlichen Gesellschaften spielen. Sie argumentiert biologisch. Jedes Wesen, sagt sie, hat eine natürliche Grundausstattung, ohne die es nicht überleben könnte. Tiger verfügen über Reisszähne, Antilopen können pfeilschnell laufen und Bienen haben Stacheln. Alles unverzichtbare natürliche Ausstattungen.
Wir Menschen wiederum sind soziale Wesen. Von Natur aus leben wir in Gesellschaften und sind auf andere angewiesen. Ohne Tugenden gäbe es keine Gemeinschaft. Die Philosophin zeigt das am Beispiel des Versprechens. Menschen geben einander fortwährend Versprechen. Keineswegs nur dann, wenn sie es ausdrücklich tun. Wenn Sie im Supermarkt Ihren Einkaufswagen füllen, versprechen Sie damit implizit, an der Kasse zu bezahlen. Wenn Sie am Morgen das Büro betreten, versprechen Sie stillschweigend, heute etwas fürs Unternehmen zu leisten.
Schauen Sie den Menschen selber an.
Versprechen sind allüberall. Das fällt uns erst auf, wenn sie gebrochen werden. Würden sie nicht in aller Regel gehalten, bräche die Gesellschaft sofort zusammen. Darum sind Tugenden für das Sozialwesen Mensch genauso überlebenswichtig wie Stacheln für die Bienen.
Natürlich wäre die Schlussfolgerung falsch, auf Regeln zu verzichten. Das Versprechen ist ja selbst eine. Dennoch bietet Foots Analogie einen wichtigen Anhaltspunkt fürs Leben. Schauen Sie bei Ihren Mitmenschen nicht einfach auf die Regeln, mit denen sie ihr Handeln begründen. Schauen Sie den Menschen selber an. Versuchen Sie seinen Charakter einzuschätzen. Tut er, was er sagt? Ist er glaubwürdig? Fair? Wertschätzend? Empathisch? Menschlich?