Stimmt denn, was der griechische Philosoph behauptet? Kann man überhaupt mit sich selber reden? Laut und gedankenlos vor sich hinplappern gewiss, wenn man sich allein wähnt. Ein „Selbstgespräch“, das leicht peinlich wird, sobald jemand zuhört. Doch das kann Platon nicht meinen, wenn er das Denken so definiert. Nein, er hat ein wirkliches Gespräch zwischen zwei Personen im Sinn, Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, Behauptung und Einwand.
Als ob man mit sich selber Schach spielen könnte! Der Witz ist doch, dass keiner weiss, wie der andere auf den nächsten Zug reagieren wird. Ein Gespräch macht nur Sinn, wenn ich die Antwort nicht schon kenne, wenn jeder den andern überraschen und sich von ihm überraschen lassen kann.
Dann nämlich bringt jede ernst gemeinte Frage etwas Neues hervor. Dann steckt in jedem Einwand ein Stück Wahrheit. Wüsste ich immer schon, was mein Gegenüber sagen wird, bliebe ich stehen. Wollte ich nur hören, was mir behagt, käme ich nicht weiter.
Genau das geschieht bei eingeschworenen Glaubensgemeinschaften. In Internetforen, in denen sich Gleichgesinnte ihrer schrägen Weltbilder versichern. Auf Plattformen, auf denen Verschwörungstheorien wuchern. Wohl auch in politischen Parteien, deren Mitglieder sich fortwährend bestätigen.
Nichts gegen Glaubensgemeinschaften und Parteien. Was sie aber dringend brauchen, um nicht in fixen Weltsichten zu erstarren, ist ein „Advocatus diaboli“. Bei Hexenprozessen im Mittelalter hat man einen solchen „Anwalt des Teufels“ eingesetzt, damit auch die Gegenseite zu Wort kam und der Richter sich unvoreingenommen wähnen konnte. Was damals eine Farce war, sollten wir in allen Gremien einsetzen, die zur kollektiven Einseitigkeit neigen: den institutionalisierten Widerspruch, eine Stimme, die auch die andere Seite der Wahrheit ins Spiel bringt.
Doch zurück zu Platon, der ja nicht von Hexenprozessen spricht, sondern von einem innerlichen Vorgang. Diesen kann man nur Denken nennen, wenn er dialogisch verläuft. Wie Platons Werke selbst, allesamt Dialoge. Wir hingegen assoziieren doch bloss und folgen unseren Einfällen, reihen Gedankenfetzen aneinander, schwimmen im „Stream of consciousness“, im Bewusstseinsstrom: einem mehr oder weniger wilden Chaos von Ideen, Erinnerungen, Wünschen, Einfällen, Visionen – und Gefühlen.
Der Dialog dagegen folgt einem anderen Gesetz: einem logischen oder analytischen. Denken heisst einer Frage geordnet auf den Grund gehen, indem man den Einwand nicht abschmettert, sondern ernst nimmt. Indem man in Frage stellt, was selbstverständlich scheint. Indem man die Wahrheit auch des Gegenarguments aufsucht. Indem man eine kritische Instanz im eigenen Geist etabliert.
Setzen Sie einen inneren
Advocatus diaboli ein.
Ein hoher Anspruch. So können Sie nicht immer vorgehen. Aber in wichtigen Angelegenheiten sollten Sie es. Setzen Sie da einen inneren Advocatus diaboli ein, der dafür sorgt, dass Sie nicht nur assoziieren, sondern denken. Er stellt Ihnen drei Fragen – oder besser: Sie sich selber:
- Sind meine Grundannahmen unumstösslich, oder könnten sie auch anders lauten?
- Wische ich Einwände weg oder gebe ich ihnen in meinem Geist Raum?
- Will ich bloss meine Meinung verwalten oder klüger werden?