Irgendwo in seinem 800-Seiten-Wälzer „Der Anspruch der Vernunft“ schreibt Stanley Cavell (1926-2018): „So gesehen, wird Philosophie zur Erziehung der Erwachsenen.“ Erwachsene erziehen? Eine Zumutung! Das tun wir mit Kindern. Was massen sich Philosophen an, Sie „erziehen“ zu wollen?

Schade, wenn Sie so reagieren würden, denn damit verpassen Sie eine Chance. Der Schlüssel zu Cavells These liegt im Wörtchen „so“. Darin steckt ein ganzer Gedankengang. Lassen Sie Ihre Skepsis für einen Moment beiseite und folgen Sie dem Philosophen. Er zitiert Kinderfragen: „Warum essen wir Tiere? oder Warum sind einige Leute arm und andere reich? oder Was ist Gott? oder Warum muss ich in die Schule gehen? oder Magst du Schwarze genauso sehr wie Weisse?“

Indem wir den Kindern antworten, führen wir sie ein in unsere Lebensformen und in unsere Sprache, die mit diesen Lebensformen untrennbar verwoben ist. Wir erziehen sie. Doch irgendwann tritt „ein natürliches Faktum“ ein, das wir, wie Cavell meint, „beinahe zwangsläufig falsch interpretieren“: Unser Körper „erlangt zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Leben seine volle Stärke und Grösse“. Mit 16 oder 18 Jahren vielleicht. Damit ist der Mist geführt. Die Erziehung ist vollzogen und beendet, das Fragen hört auf, wir wachsen nicht mehr und bleiben für die restlichen 80 Prozent unseres Daseins bei dieser Lebensgrösse stehen: Zwerge.

Weiterzuwachsen würde heissen, die Lebenskonventionen, in die ich als Kind eingeführt wurde, zu hinterfragen: Warum lebe ich so, wie ich lebe? Warum denke ich so, wie ich denke? Es hiesse, die Konventionen, die mir zur Selbstverständlichkeit geworden sind, nicht mehr für selbstverständlich zu nehmen. Innezuhalten, zu überlegen, den unhinterfragten Denk- und Lebensgewohnheiten auf den Grund zu gehen, statt weiterzuwursteln. Also zu philosophieren.

Dann geht das Fragen weiter, hoffentlich so einfach und radikal wie bei den Kindern. Meine Erziehung setzt sich fort. Aber jetzt, im Erwachsenenalter, obliegt sie nicht mehr irgendwelchen Vormündern, sondern mir selber. Und sie bedeutet auch nicht mehr einfach zu übernehmen, was mir vorgesetzt wird, sondern: Veränderung, Umkehr, Wiedergeburt.

Damit entwirft Cavell ein Konzept von Philosophie und gleichzeitig das eines gelingenden Lebens. Sie realisieren es, indem Sie nicht bei dem stehen bleiben, was Ihnen die Gesellschaft vorgibt, sondern darüber hinausgehen. Indem Sie sich weiterentwickeln und wachsen, immerzu. Und damit philosophieren Sie. Denn nichts Anderes ist Philosophie als nachdenken über mich und die Welt und darüber, wie ich in der Welt stehe.

Stellen Sie wieder Kinderfragen.

Ein solches Konzept hätte Konsequenzen für Ihr Leben. Es bedeutet: Bleiben Sie kein Zwerg. Wachsen Sie ein Leben lang. Erheben Sie das Selbstverständliche auf den Prüfstand, immer wieder. Doch wie macht man das? Ein Werkzeug oder eine Methode dafür gibt es nicht. Vielmehr geht es um eine Einstellung. Aber Einstellungen kann man üben. Fangen Sie doch damit an, dass Sie wieder Kinderfragen stellen wie die oben zitierten: Warum esse ich Fleisch? Warum gibt es Arme und Reiche? Warum arbeite ich in dieser Firma? … Aber – und darauf kommt es jetzt an! – geben Sie sich nicht mit den Antworten zufrieden, mit denen manche Eltern ihre Kindern abspeisen, ohne selber davon überzeugt zu sein. Nehmen Sie die Fragen ernst. Graben sie tiefer. Radikal.

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