Seit längerer Zeit können wir einem weltweiten Trend feststellen: Autokraten haben sich in Staaten etabliert, die zuvor funktionierende Demokratien schienen. Man spricht von „gelenkter Demokratie“: Orban, Bolsonaro, Marcos junior, Erdogan, Putin natürlich, vielleicht auch Trump gehören in diese Kategorie – auch wenn die Machthaber ihre Strategien von Land zu Land unterschiedlich einsetzen mögen.

Neu sind dabei nicht die diktatorischen Tendenzen. Diktaturen gab es zu allen Zeiten. Neu sind auch nicht die zum Teil totalitären Gepflogenheiten: Unterdrückung liberaler Medien, Wahlmanipulation, Gleichschaltung der Justiz oder die staatliche Gewalt gegen Kritiker. Das alles kennt die Welt seit jeher.

Neu ist, dass ein grosser Teil der Bevölkerung, manchenorts sogar die Mehrheit, solche autoritäre Regierungen unterstützt und mitträgt – obwohl deren Machenschaften klar vor Augen liegen.

Warum halten so viele Menschen zu derart zwielichtigen Figuren, obwohl deren Korruptheit oder gar deren kriminelle Handlungen offen zutage liegen? Man sage nicht, weil sie manipuliert werden, von einer gleichgeschalteten Medienindustrie in die Irre geführt. Wer sich in Russland, der Türkei oder Brasilien informieren will über die Fakten und darüber, was die Regierung wirklich tut, kann die Wahrheit problemlos ermitteln.

Vielmehr sehnen sich so viele Menschen nach dem starken Mann, weil sie sich von ihm Sicherheit versprechen, Wohlstand oder Bestätigung ihrer Vorurteile und Ressentiments. Weil sie sich damit der Mühseligkeit einer eigenen geistigen Auseinandersetzung entledigen.

Werden damit die Errungenschaften von Demokratie und Rechtsstaat erledigt? Die Ideen der politischen Philosophen der Neuzeit, denen wir diese Errungenschaften verdanken: John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und vielen andern?

Ich denke nicht. Aber wir müssen unseren Preis für sie zahlen, wenn wir nicht in autoritäre Verhältnisse, Korruption, Gewalt und Krieg zurückfallen wollen. Und dieser Preis besteht darin, dass wir den Fakten und Argumenten oberste Priorität einräumen – vor billigen Slogans, Partikularinteressen und Ressentiments.

Wir müssen mitdenken und mitreden, uns informieren und einbringen, den einfachen Lösungen misstrauen. Wir müssen der Sehnsucht nach dem starken Mann eine Absage erteilen. Mit einem Wort, wir müssen uns der Mühsal des Selber-Denkens unterziehen. Und wir müssen alle Menschen beherzt unterstützen, die dies auch in den Ländern tun, in denen es noch viel mehr Mut erfordert als bei uns.