Viele Menschen setzen die Rechtsprechung automatisch mit der Gerechtigkeit gleich. Nichts ist naheliegender, hat sie doch die Aufgabe, für Gerechtigkeit zu sorgen: die Fehlbaren angemessen zu bestrafen, in Streitfällen den Parteien zu ihrem Recht zu verhelfen, faire Urteile zu fällen. Das lateinische Wort “iustitia“ heisst ja auch „Gerechtigkeit“.

Darum irritiert die Antwort eines Rechtsprofessors. Als ich vor Jahren von ihm wissen wollte, welche Rolle der Gerechtigkeitsbegriff im Jus-Studium spiele, zitierte er nur lächelnd Dürrenmatts Satz.

Zugegeben, Dürrenmatt ist kein Philosoph, sondern Schriftsteller. Das Zitat findet sich auch nicht wörtlich in seinem Text, sondern bloss in der Verfilmung seines Romans „Justiz“. Aber es bringt dessen Hauptbotschaft exakt auf den Punkt. Und vor allem den prinzipiellen Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit. Umgekehrt gesagt, es räumt mit einem verbreiteten Missverständnis auf.

Denn das geltende Recht ist immer nur der Versuch, die zwischenmenschlichen Angelegenheiten so zu regeln, wie  es nach den Vorstellungen einer bestimmten Gesellschaft richtig ist. Die Gerechtigkeit dagegen ist ein ethisches Ideal. Ein Prinzip, um den berechtigten Interessen und Ansprüchen aller Menschen möglichst fair Genüge zu tun. Die Justiz gehört in die Sphäre der Politik, die Gerechtigkeit in die Ethik. Die Grundlinien dieses Prinzips haben Philosophen wie Aristoteles, John Rawls oder Michael Walzer herausgearbeitet.

Natürlich orientiert sich die Justiz in manchen Gesellschaften an der Gerechtigkeit. Aber beileibe nicht immer und überall: Das römische Recht betrachtete die Sklaverei als selbstverständlich. Die Justiz des Dritten Reichs legitimierte die skrupellosesten Verbrechen. Und Alexei Nawalny wurde rechtskräftig verurteilt.

Halten Sie Ihr Gerechtigkeitsempfinden hoch, hinterfragen Sie es aber auch.

Aber bei uns ist das doch anders, wenden Sie vielleicht ein. Unser Rechtssystem zielt doch auf Gerechtigkeit ab. Doch da ist Vorsicht geboten. Erstens ist auch unsere Justiz nur ein Versuch, Gerechtigkeit herzustellen. Er bleibt immer mehr oder weniger hinter dem Ziel zurück. Zweitens richtet sich auch unser Recht nicht unbedingt an einem ethisch fundierten Begriff von Gerechtigkeit aus, sondern eher am Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung. Und drittens sind hier immer Menschen am Werk, bei der Gesetzgebung und bei ihrer Umsetzung. Menschen sind fehlbar und oft auch parteiisch.

Kennen Sie nicht auch Fälle, in denen unsere Justiz Menschen unfair behandelt oder auch ungerechtfertigter Weise bevorteilt hat? Haben dann nicht Dürrrenmatt und mein Rechtsprofessor recht?

Darum empfehle ich Ihnen: 1. Verwechseln Sie die Justiz nicht mit der Gerechtigkeit. Glauben Sie nicht naiv, was Gerichte entscheiden, sei per se schon fair. Und rechtfertigen Sie Ihr eigenes Tun nicht einfach mit dem Gesetz. Rechtskonform vorzugehen heisst noch nicht gerecht handeln. 2. Halten Sie Ihr eigenes Gerechtigkeitsempfinden hoch, hören Sie auf seine Stimme – hinterfragen Sie es aber auch. Auch unüberprüfte Intuitionen können in die Irre führen.

 

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