An Hegel scheiden sich die Geister. Auch unter den Philosophen. Für einige war er grosser Vordenker und Bezugspunkt fürs eigene Philosophieren, wie etwa für Marx, Adorno oder Peirce. Andere kritisierten ihn als unverständlich und verschwommen wie Popper oder Russell. Erzrivale Schopenhauer hasste ihn für seine vorgegaukelte Tiefgründigkeit. In meinen Augen haben die Kritiker recht – wischen aber mit ihrer radikalen Ablehnung auch seine tatsächlich grossen Ideen vom Tisch. Etwa diesen Jahrhundertsatz. Machen wir Beispiele.

Die einen finden, die „Wirtschaftsmigranten“ würden uns „explodierende Kosten, mehr Kriminalität und grosse gesellschaftliche Probleme“ bescheren. Andere fordern, wir sollten „immer auf der Seite der Menschen stehen, die uns brauchen“. Einige beschwören bei der Künstlichen Intelligenz das Schreckensszenario einer von Robotern beherrschten Welt. Andere glauben, die KI könne alle unsere technischen Probleme lösen. Einige beklagen allein die israelischen Opfer der Hamas-Terror-Attacke, andere verschweigen sie und solidarisieren sich mit der Zivilbevölkerung in Gaza.

Doch liegt die Wahrheit immer nur auf einer Seite? Sollen wir die andere an die Wand argumentieren oder totschweigen? Hegels Satz fordert, auch die andere Seite zu bedenken – und das stichhaltige Gegenargument anzuerkennen. Gewiss, unsere Immigranten konfrontieren uns mit ernsthaften Problemen. Aber gleichzeitig sind wir ihnen einen menschlichen Umgang schuldig. Wir müssen einräumen, dass die KI Gefahren birgt – zugleich aber auch enorme Möglichkeiten. Zuzugestehen, dass die Hamas ein bestialisches Massaker angerichtet hat, schliesst nicht aus, auch Tod und Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung zu beklagen – und sich mit den unschuldigen Opfern auf beiden Seiten zu solidarisieren.

„Das Wahre ist das Ganze“ heisst, alle Seiten einer Sache zu bedenken, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, die Einzelheiten zu sehen und zu berücksichtigen. Kurzum: differenziert zu urteilen. Der Satz warnt vor Einseitigkeit, Reduktionismus und Dogmatismus. Er weist ideologische Haltungen und Klischeedenken zurück. Das heisst nicht, überall den „goldenen“ Mittelweg zu suchen, die laue Indifferenz zwischen den Extremen. Wohl aber allen begründeten Argumenten gerecht zu werden, ihnen den angemessenen Platz einzuräumen.

Stellen Sie sich einmal vor, Alltags- und Stammtischgespräche, ja unsere politischen Auseinandersetzungen würden sich an diesem Grundsatz ausrichten. Wir hätten eine vollkommen andere Gesprächskultur. Die Debatten – das Wort kommt von „battere“: sich schlagen – wären dann eben keine mehr, sondern Dialoge: wirkliche Gespräche.

Die Dinge von allen Seiten her betrachten, alle ihre Aspekte bedenken: sie ganz sehen.

Hegel-Kenner mögen dem entgegenhalten, der Meister habe das nicht so plump gemeint. Unter dem „Ganzen“ verstehe er den Gang der Weltgeschichte, die dialektische Entfaltung der Vernunft im Lauf der Zeiten, die allmähliche Selbstverwirklichung des Geistes, der so schliesslich „zu sich kommt“. Mir scheint, man kann auf eine derartige Metaphysik getrost verzichten – und gleichwohl am Kerngedanken festhalten. Die Geschichte strebt nicht auf ein vorgegebenes Ziel hin, kennt kein „sich vollendendes Wesen“. Aber wir sind gut beraten, die Dinge – alle Dinge – von allen Seiten her zu betrachten, alle ihre Aspekte zu bedenken: sie also ganz zu sehen

Das gilt nicht zuletzt für unseren Blick auf die Menschen. Zum Beispiel in Ihrem Umfeld: Stecken Sie sie nicht in Schubladen, berücksichtigen Sie alle ihre Charakterzüge, sehen Sie sie ganz. Nur so werden Sie ihnen gerecht.

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