Können Sie sich etwas schlechthin Böses vorstellen? Ein krasseres Beispiel dafür als den Holocaust? Eine augenfälligere Verkörperung des Bösen als Adolf Eichmann: den Organisator dieses sechsmillionenfachen Mordes. Der SS-Obersturmbannführer hatte sich nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches nach Argentinien abgesetzt, von wo ihn der israelische Geheimdienst 1961 nach Jerusalem entführte, um ihm den Prozess zu machen.
Die Philosophin Hannah Arendt, als Jüdin vor den Nazis geflohen, beobachtete den Prozess vor Ort. Wie alle Welt erwartete sie ein Monster – doch der Jahrhundert-Verbrecher entpuppte sich als biederer Durchschnittsmensch. Er rechtfertigte seine Taten mit der Pflicht dem „Führer“ gegenüber. Ein ergebener Diener seines Herrn, der alles getan hatte, seine „Aufgabe“ pflichtschuldigst zu erfüllen. Keine Bestie, sondern ein menschlich vollkommen belangloser Beamter, der zu seiner Rechtfertigung sogar Immanuel Kants kategorischen Imperativ zitierte, den er freilich grotesk missverstand.
Indem Arendt ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ den Untertitel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ gibt, verharmlost sie mit dieser Formel keineswegs die Ungeheuerlichkeit seiner Taten, wie man ihr vorwarf. Vielmehr warnt sie uns davor, das Böse auf die leichte Schulter zu nehmen, und das sollten wir gerade heute besonders bedenken.
Autokraten und Diktatoren von Kim Jong-un über Xi Jinping bis zu Putin geben sich nicht selten volksverbunden, manchmal gar sympathisch. Sie haben nur das Wohl des Volkes im Auge – und schrecken gleichwohl nicht davor zurück, jede Kritik mit Gewalt im Keim zu ersticken, Tausende unschuldiger Menschen in Gefängnisse zu stecken oder gar zu massakrieren. Arendt fordert uns auf, sie an ihren Taten zu messen, nicht an ihren Worten.
Um bei Putin zu bleiben: Arendt macht deutlich, dass das Böse nicht zwingend ein Motiv braucht – einmal abgesehen von offensichtlichen, aber eben banalen wie Macht oder blindem Gehorsam. Es braucht keine raffinierte Psychologie, um beispiellose Brutalität zu erklären. Solche Menschen funktionieren ganz simpel: vollkommen gewissen- und skrupellos, nur um ihre Macht zu erweitern oder einem „Führer“ zu gehorchen.
Entscheidend ist, was Sie entscheiden.
Menschen brauchen für abgrundtief unmenschliches Handeln kein speziell tiefgründiges Motiv. Vielmehr fehlt ihnen etwas, das sie daran hindert. Eine Art innerer Kompass, eine bestimmte Haltung, eine Gesinnung. Den Schlächtern fehlt es an Menschlichkeit. Sie hält uns davon ab, andern rücksichtslos, brutal, gewalttätig zu begegnen.
Eichmanns Fall zeigt uns auch den Kern dieser Menschlichkeit: Empathie. Die Fähigkeit, Menschen als Menschen zu sehen. Sie sind unseresgleichen, leiden wie wir, haben Wünsche, Interessen, Emotionen, Sehnsüchte und zwischenmenschliche Beziehungen wie wir. Eichmann hat seine Konzentrationslager besichtigt und das Elend der Insassen mit eigenen Augen gesehen. Aber es hat ihn nicht berührt. Das waren nicht Menschen – sondern Juden.
Die „Banalität des Bösen“ geht auch Sie als Leader an. Als Mensch, der andere führt, werden auch Sie nicht an Ihren Worten gemessen, sondern an Ihren Taten. Das heisst: Entscheidend ist, was sie entscheiden. Der Massstab dafür heisst Menschlichkeit.