Was meint der Philosoph aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, wenn er dem Krieg eine derartige Macht zuschreibt? Ist er ein Bellizist, ein Kriegsverherrlicher?
Sein Satz lautet in voller Länge: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge, aller Dinge König; die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ Nach Heraklit weist der Krieg uns allen die Stellung in der Welt und in der Gesellschaft zu. Er bestimmt, wo wir stehen im sozialen Gefüge. Letztlich sind wir, was wir sind, aufgrund von gewaltsamen Auseinandersetzungen.
Für die Menschen früherer Zeiten, von der Antike bis in die frühe Neuzeit, ist das selbstverständlich. Wir können uns kaum mehr vorstellen, wie gewalttätig es in fast allen Epochen der menschlichen Geschichte zuging. Der Sozialwissenschaftler Steven Pinker hat eine Fülle von Daten zusammengetragen, die dies eindrücklich beweisen. So gab es etwa zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert kaum ein Jahr, in dem sich nicht mindestens eine Grossmacht im Krieg befand.
Wir dagegen geniessen das unglaubliche Privileg, eine beinahe 80-jährige Friedensphase zu erleben. In Mitteleuropa gab es – vom Balkan abgesehen – seit 1945 keinen Krieg mehr. Die Ausnahme, der Frieden, ist für uns zum Normalfall geworden. Darum kommt uns Heraklits Beschwörung des Krieges als schicksalhafte Macht archaisch vor.
Jetzt aber sind plötzlich heftige und brutale Kriege in unserer Nachbarschaft ausgebrochen, wie wir es nicht mehr für möglich gehalten hätten. Jetzt können wir nachempfinden, warum Heraklit im Krieg eine unausweichliche Schicksalsmacht sieht, der wir nicht entrinnen können, eine furchterregende Gottheit.
Natürlich wissen wir im 21. Jahrhundert, dass dahinter kein Naturgesetz steht, dass Kriege von Menschen geführt werden, dass es in unserer Hand liegt, sie zu vermeiden. Auch wenn wir als Einzelne kaum eine Möglichkeit sehen, sie zu verhindern.
Doch wir können Einfluss nehmen, meine ich. Der erste Schritt besteht darin, anzuerkennen, dass Krieg tatsächlich eine Maschinerie in Gang setzt, die tausendfaches Leid hervorbringt, alles Menschliche zermalmt und die Hölle auf Erden schafft. Vor allem aber, dass diese Maschinerie kaum kontrolliert werden kann. Dass sie denen, die sie in Gang setzen, regelmässig aus dem Ruder läuft. Das heisst natürlich, dass Krieg keine Option ist und dass wir alles tun müssen, um ihn zu vermeiden. Das aber bedeutet zuallererst, seine Treiber zu eliminieren.
Mit ihrer Lebensführung entscheiden Sie stets mit, wohin wir alle uns bewegen.
Worin diese bestehen, hat der US-Historiker Peter Turchin glasklar aufgezeigt: Kriege und andere gewaltsame Konflikte brechen aus, wenn sich die Einkommens- und Vermögensschere in einer Gesellschaft immer stärker öffnet. Wenn grosse Bevölkerungsteile verelenden. Wenn sie ihre Zukunftsperspektiven verlieren, zum Beispiel weil sie sich ihrer Lebensgrundlagen beraubt sehen. Wenn das Vertrauen in die staatliche Ordnung schwindet. Und auch, wäre zu ergänzen, wenn Wut und Hass die Kultur der Verständigung überschreien.
Wie sollen Sie gegen diese Treiber der Gewalt ankommen? Da können Sie doch auch nichts machen. Oh, doch. Mit ihrer persönlichen Lebensführung entscheiden Sie stets ein klein wenig mit, wohin wir alle uns bewegen: Sie kaufen ein, konsumieren, pendeln hin und her, reisen in die Ferien. Sie stimmen ab und wählen die Entscheidungsträger, die wiederum Weichen in die eine oder andere Richtung stellen. All dies trägt letztlich zur Verhinderung von Kriegen bei – oder macht sie wahrscheinlicher. Das ist nicht viel, zugegeben. Doch es ist ihr persönlicher Beitrag.