Auf den ersten Blick leuchtet er unmittelbar ein, der vielleicht berühmteste Satz Adornos. Wie sollen wir ein richtiges Leben führen, wenn wir gleichzeitig eingebunden sind in Lebensformen, die als ganze falsch sind? Da sie es aber sind, ist der Satz auch ein vernichtendes Verdikt: Wir alle können kein richtiges Leben führen.

Doch was heisst schon „richtiges“ und „falsches Leben“? Der Satz findet sich in den „Minima Moralia“, einer Sammlung von Reflexionen, die der Autor 1944-47 im kalifornischen Exil notiert. Die Aussage schliesst einen Aphorismus ab, überschrieben mit „Asyl für Obdachlose“, in dem Adorno mit der US-amerikanischen Wohnkultur abrechnet. Stillos und lieblos seien die Behausungen, auf „reine Zweckformen“ reduziert, als könne man sie wegwerfen wie „Konservendosen“, ohne Bezug zu den Bewohnern, „für Banausen angefertigte Etuis“. Das richtige Leben also: traditionelle, gutbürgerliche Häuser? Das falsche: amerikanische Flats und Bungalows? Da mäkelt ein Emigrant an seinem Gastland.

Doch die Kritik geht über die amerikanischen Wohnungen hinaus. In seinem Hauptwerk „Dialektik der Aufklärung“, gemeinsam mit Max Horkheimer verfasst, zeigt Adorno, wie ein grosses Projekt gescheitert ist: Die Aufklärung hat uns Befreiung aus Abhängigkeit, Aberglaube und Unterdrückung versprochen. Mit der Vernunft wollten wir alles Irrationale und Mythische austreiben. Doch das hat im 20. Jahrhundert zum Gegenteil geführt: zu einem neuen Mythos, dem der „instrumentellen Vernunft“, und zu neuen, globalen Abhängigkeitsverhältnissen. Die brutalste Form dieses Umschlags sehen die Autoren im Faschismus, seinen augenfälligsten symbolischen Ausdruck im Lebensstil und der „Kulturindustrie“ der USA.

Wir müssen Adornos Kulturpessimismus nicht teilen. Sein Diktum aber gilt einer grossen Frage: Können wir überhaupt ein richtiges Leben führen, wenn die Welt um uns herum im Argen liegt? Die Frage könnte heute drängender nicht sein. Denn was läuft nicht alles schief zurzeit! Wir sind Teil eines sinnentleerten, auf Gewinnmaximierung und blinden Konsum abzielenden Wirtschaftssystems. Wir sind im Begriff, unsere natürliche Umwelt unwiederbringlich zu ramponieren. Brutale Kriege in unserer Nachbarschaft wirken in unsere Gesellschaft hinein. Autokraten drohen allenthalben die demokratischen Errungenschaften zu zerstören. Gesellschaftliche Konflikte spalten die Bevölkerung und höhlen die Solidarität aus.

Können wir selber bei all diesen Falschheiten ein richtiges Leben führen? Die Logik kennt nur Richtig oder Falsch, das Leben aber Grauzonen, Mischverhältnisse und graduelle Abstufungen. Darum sollten wir lieber von einem guten Leben sprechen als von einem richtigen. Es geht um ein Ideal, dem wir näher oder weniger nah kommen, das wir besser oder weniger gut erfüllen können.

Haben Sie noch immer eine Vorstellung von einem gelingenden Leben?

Die Antwort lautet also nicht ja oder nein. Sie hängt von Ihrer Einstellung ab. Sie können die Flinte ins Korn werfen. Die Zeichen des Zerfalls sind zu entmutigend, die Zwänge zu stark, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu kläglich. Angesichts dessen, was wir heute an Beelendendem erleben, ist eine solche Reaktion nur allzu verständlich. Nur geben Sie dann Adorno recht und verzichten auf ein gutes Leben.

Vielleicht aber haben Sie noch nicht resigniert. Vielleicht haben Sie noch immer eine Vorstellung von einem gelingenden Leben. Von einem, das Sie im Ganzen bejahen können, bei dem Sie integer bleiben können: unversehrt. Vielleicht versuchen sie noch immer, es Schritt für Schritt zu realisieren. Ihm in allem, was Sie tun, näher zu kommen. Dann wäre ein gutes Leben mitten in allem Schlechten noch immer möglich.

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